20. Apr 2020 |
Corona ebnet den Weg für virtuelle Gerichtsverhandlungen
Der Bundesrat hat in der Verordnung vom 16. April 2020 (https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/aktuell/news/2020/2020-04-16/vo-covid19-justiz-d.pdf) diverse notrechtliche Massnahmen ergriffen, um die Funktionsfähigkeit der Justiz trotz der Corona-Pandemie zu erhalten. Dabei hat er insbesondere virtuelle Gerichtsverhandlungen (Video- oder Telefonkonferenz) sowie Erleichterungen für Zustellungen im Betreibungsverfahren vorgesehen.
Die notrechtlichen Regelungen des Bundesrats sind zu begrüssen, da sie für eine gewisse Rechtssicherheit in der Schweizer Justiz sorgen und der Gefahr vorbeugen, dass aufgrund der BAG-Verhaltensempfehlungen gerichtliche Streitigkeiten nicht mehr beförderlich behandelt werden können. Wie der Bundesrat in den Erläuterungen zu der Verordnung treffend festhält, ist es unverzichtbar, dass im Streitfall auf eine funktionsfähige Justiz zurückgegriffen werden kann und Streitigkeiten möglichst rasch behördlich oder gerichtlich entschieden werden.
1. Übersicht
Zunächst stellt die Verordnung klar, dass alle laufenden Zivil-, Straf- und Verwaltungsverfahren nach dem anwendbaren Verfahrensrecht möglichst normal, jedoch unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsvorschriften des BAG, weiterzuführen sind. Soweit bei Zivilverfahren Verhandlungen nicht unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsvorschriften durchgeführt werden können, regelt die Verordnung den Einsatz von Video- und Telefonkonferenz-Lösungen (anstelle von Verhandlungen mit physischer Präsenz) sowie den ausnahmsweisen Verhandlungsverzicht (vgl. Art. 2– 6). Damit sorgt die Verordnung für Rechtssicherheit und ermöglicht die mittel- und längerfristige Funktionsfähigkeit der Justiz, insbesondere auch in sensiblen Bereichen wie dem Eherecht oder dem Kindes- und Erwachsenenschutz.
Keine Spezialregelung enthält die Verordnung demgegenüber zum Einsatz von Videokonferenzen im Verwaltungs- und Strafverfahren: Für kantonale Verwaltungsverfahren sind ohnehin die Kantone für den Erlass von Sonderregelungen im Verwaltungsverfahren zuständig. Im Verwaltungsverfahren des Bundes ist der Einsatz von Video- und Telefonkonferenz-Lösungen bereits de lege lata möglich. Das praktische Hauptproblem, nämlich die Durchführung von Augenscheinen, kann ohnehin nicht durch eine Videokonferenz ersetzt werden. Auf die notrechtliche Einführung von Sondermassnahmen im Strafverfahren hat der Bundesrat bewusst verzichtet (Unmittelbarkeitsprinzip für die Beweiswürdigung, Gefahr der Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung durch unzulässige Veröffentlichung von Verfahrenshandlungen etc.).
Schliesslich enthält die Verordnung in Art. 7 eine notrechtliche Erleichterung für die Zustellung von Mitteilungen, Verfügungen und Entscheiden der Betreibungs- und Konkursbehörden sowie von Betreibungsurkunden (z.B. Zahlungsbefehl) sowie eine Sonderbestimmung über die Zulässigkeit von Online-Versteigerungen (Art. 9).
2. Zeitlicher Geltungsbereich
Die notrechtlichen Massnahmen in der Justiz und im Verfahrensrecht gelten vom 20. April 2020 bis zum 30. September 2020.
3. Virtuelle Gerichtsverhandlungen und Verhandlungsverzicht
3.1. Einschränkungen des Öffentlichkeitsprinzips
In den kommenden Monaten werden die Gerichte zwischen (normalen) mündlichen Verhandlungen, virtuellen Gerichtsverhandlungen (mittels Video- oder Telefonkonferenz) sowie einem vollständigen Verhandlungsverzicht (schriftliches Verfahren) zu entscheiden haben.
Problematisch an virtuellen Gerichtsverhandlungen ist – neben allfälligen technischen Schwierigkeiten – insbesondere der damit einhergehende Ausschluss der Öffentlichkeit (Art. 54 ZPO). Die Verordnung sieht diesbezüglich vor, dass bei Videokonferenzen zwar die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, jedoch akkreditierte Medienschaffende auf Gesuch hin Zugang zur Videokonferenz-Verhandlung gewährt wird (Art. 2 Abs. 3 Verordnung).
3.2. Virtuelle Gerichtsverhandlungen
Nach Art. 2 Abs. 1 Verordnung können in Abweichung zu Art. 54 ZPO Verhandlungen virtuell mittels Videokonferenz durchgeführt werden,
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- wenn die Parteien damit einverstanden sind oder
- wenn wichtige Gründe vorliegen (insbes. Dringlichkeit).
Damit stellt die Verordnung klar, dass der Einsatz von Videokonferenz-Lösungen grundsätzlich das Einverständnis der Parteien voraussetzt. Bei Vorliegen wichtiger Gründe kann das Gericht eine Videokonferenz aber auch verbindlich anordnen, ohne dass die Parteien damit einverstanden sind. Dabei ist den Parteien aber das rechtliche Gehör zu gewähren und es sind auch die technischen Möglichkeiten der Parteien zu berücksichtigen. Sodann sind stets die technischen Vorgaben gemäss Art. 4 der Verordnung einzuhalten.
Nach Art. 2 Abs. 2 Verordnung kann das Gericht insbesondere für die Einvernahme von Zeugen sowie die Erstattung von Gutachten durch sachverständige Personen durch Videokonferenz durchführen. Damit greift die Verordnung der ohnehin vorgesehenen Änderung der ZPO (vgl. Art. 170a ff. revZPO, https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/staat/gesetzgebung/aenderung-zpo/entw-d.pdf) vor und ändert Art. 171, 174, 176 und 187 ZPO. Solch virtuelle Befragungen kann das Gericht stets ohne das Einverständnis der Parteien anordnen und durchführen.
Eine Spezialregelung hat der Bundesrat schliesslich für virtuelle Verhandlungen in eherechtlichen Verfahren erlassen (Art. 3).
3.3. Technische Anforderungen an virtuelle Verhandlung
In technischer Hinsicht stellt der Bundesrat Grundsätze für die virtuelle Verhandlung auf (Art. 4 Verordnung). So ist sicherzustellen, dass
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- die Übertragung von Ton und gegebenenfalls Bild zwischen sämtlichen beteiligten Personen zeitgleich erfolgt;
- bei Einvernahmen von Zeugen bzw. Sachverständigen und Anhörungen in eherechtlichen Verfahren eine Aufzeichnung von Ton und gegebenenfalls Bild erfolgt und diese zu den Akten genommen wird; und
- der Datenschutz und die Datensicherheit gewährleistet sind.
3.4. Schriftliches Verfahren
Soweit im Einzelfall weder eine normale mündliche Verhandlung oder eine Verhandlung mittels Video- oder Telefonkonferenz möglich ist oder dies unzumutbar ist, kann das Gericht Verfahren ausnahmsweise schriftlich durchführen und definitiv auf die Durchführung einer (Haupt-)Verhandlung verzichten (Art. 5 Verordnung). Vorausgesetzt für das schriftliche Verfahren ist demnach
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- dass eine virtuelle Verhandlung nicht möglich oder unzumutbar ist, dass
- die Angelegenheit dringlich ist und
- keine wichtigen Gründe dagegen sprechen (z.B. Laien ohne Rechtsvertreter oder gerichtliche Fragepflicht drängt sich auf, so dass sich eine Verhandlung aufdrängt).
Soweit möglich ist auch in der ausserordentlichen Lage die Mündlichkeit, allenfalls in der Form einer Video- oder Telefonkonferenz, beizubehalten, wenn nicht die Parteien im Rahmen des geltenden Rechts darauf verzichten (so insb. für die mündlichen Schlussvorträge und die mündliche Hauptverhandlung gemäss Art. 232 Abs. 2 und Art. 233 ZPO). Vor seinem Entscheid über den Verzicht auf die Durchführung einer Verhandlung hat das Gericht den Parteien grundsätzlich Gelegenheit zur Stellungnahme im Rahmen des rechtlichen Gehörs zu gewähren. Bereits nach geltendem Recht ohne weiteres im schriftlichen Verfahren durchgeführt werden können viele Summarsachen (z.B. vorläufige Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts; Rechtsöffnungsverfahren etc.).
4. Erleichterungen im Betreibungsverfahren
Aufgrund der wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns sowie des Rechtsstillstandes bis zum 19. April 2020 rechnet der Bundesrat ab dem 20. April 2020 mit einem grossen Volumen von Zustellungen im Betreibungsverfahren, so dass sich Verzögerungen von Sendungen und Zustellungen kaum vermeiden lassen. Die BAG-Empfehlungen würden die Zustellung von Sendungen im Betreibungsverfahren erheblich erschweren, sowohl für die zustellenden Betreibungs- und Konkursämter als auch für die Schweizerische Post. Um diesen Erschwernissen teilweise entgegenzuwirken hat der Bundesrat eine erleichterte Zustellung insbesondere für Betreibungsurkunden (mithin Zahlungsbefehle) vorgesehen (Art. 7 Verordnung). Diese können neu gegen Zustellnachweis und ohne Empfangsbestätigung erfolgen (mithin durch A-Post Plus), wenn kumulativ
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- ein erster ordentlicher Zustellversuch gescheitert ist oder im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände von vornherein unmöglich oder aussichtslos ist;
- die Empfängerin spätestens am Vortrag der Zustellung durch telefonischer Mitteilung über die Zustellung verständigt worden ist oder damit gerechnet werden darf, dass sie eine schriftliche oder elektronische Mitteilung über die Zustellung spätestens am Vortag erhalten hat.
Weil mit der erleichterten Zustellung (ohne Zustellnachweis) auch die Gefahr einhergeht, dass Fristen ausgelöst werden, ohne dass der Rechtssuchende von der Zustellung überhaupt Kenntnis erlangt hat, sieht der Bundesrat in Art. 8 Verordnung Erleichterungen bei der Fristwiederherstellung nach Art. 33 Abs. 4 SchKG vor.
Nicht von der erleichterten Zustellung erfasst sind hingegen gerichtliche Entscheide in Betreibungs- und Konkurssachen gemäss Art. 251 ZPO (z.B. Rechtsöffnungsurteil; Konkurserkenntnis etc.).